Wie ein Virus die Demokratie gefährdet
An vielen Orten der Welt nutzen Politiker die Corona-Pandemie, um Eilgesetze und Notstandsvollmachten zu erlassen. Viele dieser Erlasse schränken massiv die Freiheiten der Bevölkerung ein oder festigen die Position autoritär ambitionierter Staatsoberhäupter. Entscheidend für die Demokratie ist, was nach der Krise passiert.
Der Staat wacht über seine Bürger. Mehr denn je in Zeiten von SARS-CoV-2, dem Coronavirus. Doch wer bewacht den Wächter, wenn alle damit beschäftigt sind, sich über die unmittelbaren Folgen des Virus Sorgen zu machen? Wenn alle verzweifelt nach Toilettenpapier suchen?
Das ungarische Parlament hat derweil ein Notstandsgesetz verabschiedet, das es Ministerpräsident Viktor Orbán ermöglicht, das Parlament zu umgehen und bestehende Gesetze außer Kraft zu setzen. Orban, der im März den Notstand ausgerufen hatte, kann jetzt ohne parlamentarische Kontrolle per Dekret regieren.
Das Gesetz verschärft zudem die Beschränkung der Meinungsfreiheit und ermöglicht drastische Strafen für Personen, die sich nicht an Quarantänevorschriften halten. Wahlen und Volksabstimmungen sind zunächst außer Kraft gesetzt. Das Gesetz habe eine große Angst ausgelöst, dass „die Orban Regierung eine echte Diktatur wird“, sagte Daniel Karsai, ein Anwalt aus Budapest.
Israels Ministerpräsident, Benjamin Netanjahu, ließ alle Gerichte schließen – wenige Wochen bevor ein gegen ihn eröffnetes Verfahren wegen Korruption verhandelt werden soll. Netanjahu autorisierte außerdem den israelischen Inlandsgeheimdienst, Mobilfunkdaten zu nutzen, um die Bewegungen der Bürger nachzuverfolgen. Im Fall von Verstößen gegen die vorgeschriebene Isolation drohen bis zu sechs Monate Gefängnis.
„Parallel-Epidemie autoritärer und repressiver Maßnahmen“
(Fionnula Ni Anolain, UN-Sonderberichterstatterin)
Israel und Ungarn sind Beispiele für Tendenzen, die in vielen Ländern der Welt beobachtet werden können – auch in stabilen Demokratien, wie Großbritannien. Der britische Gesundheitsminister stellte einen 340-seitigen Gesetzesentwurf vor (Coronavirus Act 2020), den das Parlament in kürzester Zeit verabschiedete. Kritiker befürchten, dass z.B. die im Gesetz verankerten, weitreichenden Befugnisse für Polizei und Grenzbeamte die Rechte von Immigranten nachhaltig einschränken könnten. Die Befugnisse seien in Friedenszeiten in Großbritannien „nie denkbar“ gewesen, sagte Silkie Carlo, Direktorin von Big Brother Watch.
Südkorea und Singapur haben aktuell eine Tracking-App eingeführt, die helfen soll, Infektionsketten nachzuvollziehen. Zum Teil veröffentlichten offizielle Stellen detaillierte Daten von Infizierten im Internet. Auch der deutsche Gesundheitsminister, Jens Spahn, hat kürzlich für eine solche App plädiert. Experten sind jedoch überzeugt, dass eine Tracking-App keine verwertbaren Daten liefert und somit nicht zur Eindämmung der Corona-Pandemie beiträgt. Was bleibt, ist der Eingriff in die Privatsphäre.
„Demokratien sterben nicht an einem Tag.“
(Susie Navot, Striks School of Law)
Es besteht kein Zweifel daran, dass das Einschränken von Freiheitsrechten während der Krise notwendig ist. Das Coronavirus ist keine Lappalie und es steckt auch sicher keine Verschwörung dahinter, wie manche sich nicht entblöden zu behaupten. Doch sehen Kritiker eine reale Gefahr, dass die Gesetze auf unbestimmte Zeit in Kraft bleiben und dauerhaft Rechte beschneiden. Susie Navot, Professorin an der Striks School of Law in Israel, sagte, Demokratien werden Stück für Stück abgetragen, wie es sich derzeit in Europa beobachten ließe. „Es ist wie eine Rauchbombe“, sagte sie, „Sie sehen nicht besonders gut und dann ändern sich die Dinge plötzlich, ohne dass Sie es merken.“
Es wird Wachsamkeit und entschiedenes Handeln erfordern, die „autoritäre Wende“ und die „Normalität des Ausnahmezustands“ zu verhindern.